Ulf Erdmann Ziegler

Die Wirkung von Fotografien, sagen einige ihrer Exegeten, sei im Prinzip abhängig vom Text, der den Sinnzusammenhang erst stifte. Dabei wären drei unterschiedliche Methoden zu nennen. Die erste wäre die Bildunterschrift, sie sagt: »Dies ist es, was du siehst!« Die zweite wäre ein Textteil, der - im Fall der Reportage, zum Beispiel - dem fotografischen Konvolut symmetrisch beigestellt wird. Die dritte Methode liegt, ganz im Sinne der Kunstgeschichte, in der Visualisierung von Text: Wer das Bild beschreibt, findet automatisch zurück zum Skript, sei es biblisch, nachrichtlich oder romantisch.

Ein erheblicher Teil der Energien, die Fotografen im 20. Jahrhundert in ihr Projekt investiert haben, gilt der Relativierung des Textes; dem Versuch also, das Abbilden in reines Schauen zu überführen. Dabei lässt der Fotograf den Betrachter in einem Höchstmaß am Akt des Fotografierens teilnehmen, ein Akt, der entgegen dem Klischee weniger mit dem Augenblick als eher mit der Versenkung in ein Objekt zu tun hat. Es mischen sich Verwunderung und Staunen, und am Ende steht wahrscheinlich die reine Kontemplation.

Das traditionelle Objekt eines solchen Schauens findet man im Repertoire eines Fotografen wie Edward Weston: die Paprika, die Düne, der Akt. Je zeitloser das Objekt ist, desto größer ist die Chance, seinen metaphysischen Kern zu transzendieren, also in eine Form der Anschauung zu überführen. Spätere Fotografen - Lee Friedlander, zum Beispiel - machten die Entdeckung, dass nicht nur die natürliche, sondern auch die soziale Landschaft geladen ist mit visuellen Prämissen, Metaphern und Symbolen. Das Ding als solches wurde also ersetzt durch ein Gestrüpp von Zeichen, dessen Gestalt durch das Spezifische des fotografischen Schauens überhaupt erst in Erscheinung trat.

Die Fotografie von Matthias Hoch gewinnt überraschenderweise aus beiden Traditionen kontemplativer Fotografie ihre Substanz. Einerseits deutet er Objekte und Apparate, die offensichtlich einen gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen haben. Wir haben es zu tun mit Funktionen der sozialen Landschaft. Andererseits stellt Hochs Blick die Verbindungen und Leerstellen des baulichen Ambientes aus. Er betrachtet die soziale Landschaft wie Weston die Natur.

Die Fotografien selbst sind leichter zu verstehen als der Umstand, dass es sie überhaupt gibt. Es fängt schon damit an, dass die Hausherren in Banken, Kliniken und Behörden nicht so recht verstehen, warum Matthias Hoch unbedingt dort fotografieren will, wo es eindeutig nichts zu sehen gibt. War nicht die Fotografie vor zwanzig Jahren schon für ein höchst altertümliches Medium gehalten worden, weil die modernen Prozesse der Kommunikation - nämlich die digitalen - sich mit ihr nicht würden abbilden lassen? Und zeigen Matthias Hochs Fotografien möglicherweise genau das?

Nun, sie beschäftigen sich eben nicht mit der sprechenden Seite der Objektwelt, sondern eher mit der stummen. Matthias Hoch interessiert sich für die Rückseite, die Hohlform, den konstruktiven Rest der soeben vollendeten baulichen Ordnung. Seine Betextung identifiziert die Objekte nicht, sondern belässt es bei knappen Hinweisen auf Ortsnamen; so betont er die Arbitrarität. Eine Verwechslung ist nicht ausgeschlossen.

In der Tat sind die stummen Seiten nahezu namenlos. Welcher Architekt zeichnet denn verantwortlich für die Unterseite einer Treppe, welcher Stadtplaner kann seinen Entwurf einer Autobahnverzweigung von dem seines Amtskollegen unterscheiden? Hoch, der Fotograf, würdigt aber gerade die unverbindlichen Komponenten des Systems, um sie in der Serie als Universalien vorzuführen. Nur so ist es zu erklären, dass er beim Fotografieren gelegentlich ein Inventar störender Dinge erstellt, die er dann im digitalen Labor entfernt. So tritt das Archaische der stummen sozialen Landschaft in Erscheinung.

Wenn Matthias Hoch artifizielle Objekte betrachtet wie Natur, führt dies allerdings nicht dazu, dass sie auch so aussehen. Im Gegenteil, ihre Farbgebung - so seine Entdeckung - weist eher auf moderne Kunst. Dass man etwas anderes sieht, als eigentlich gemeint ist, kann man als Irrtum bezeichnen, der Vorgang aber ähnelt dem, was das Lexikon als Ironie definiert.


© Ulf Erdmann Ziegler. Veröffentlicht in: Matthias Hoch, Fotografien (Leporello). Oldenburger Kunstverein, 2000, o.S.


top
Using Format