Prolog, Gewandhaus Leipzig, 1981
Am 1. Dezember 1981 gastierten die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan zum ersten Mal in der DDR, im soeben eröffneten Neuen Gewandhaus. Von 1.900 Eintrittskarten gingen 150 in den freien Vorverkauf.
»Ich hatte die LVZ-Annonce gelesen und wollte, wie viele andere auch, unbedingt in dieses Konzert gehen. Der Vorverkauf begann am einem Sonnabend um 14 Uhr. Als ich Freitagmittag vorbeikam, sah ich schon eine Menschentraube. Einer aus der langen Reihe war in einem metallurgischen Betrieb beschäftigt und hatte 200 Blechmarken stanzen lassen. Er war der Chef, man mußte sich bei ihm melden, wurde in eine Warteliste eingetragen und bekam eine Marke. Meine Nummer war die 33, und wie alle konnte ich nochmal nach Hause gehen, um ein paar Übernachtungsutensilien zu holen. Mit Schlafsäcken, Campingsachen und heißen Getränken kamen die Leute wieder, etwa 100 verbrachten die Nacht im Innenhof des Gewandhauses: vorwiegend Musikstudenten, aber auch Rentner und sogar Gewandhausmusiker. Zwar konnten wir mit Abmelden zeitweise verschwinden, aber alle zwei Stunden wurde die Anwesenheit überprüft, und wer nicht da war, schied aus.
Sie haben dann fotografiert. Wie wurde das von der wartenden Nachtgemeinde aufgenommen?
Anfangs mit Distanz, die sich allmählich verlor. Ich hatte mir auf meine Kutte die „Startnummer“ 33 genäht, war also schon optisch kein Außenseiter, so daß ich auch mit meiner Kamera akzeptiert wurde. Ohnehin kam man sich noch vor Mitternacht nahe, sprach über alles Mögliche und erzählte die Geschichte seines Lebens.
Also hatte sich diese freiwillige Nacht unter frostigem Novemberhimmel gelohnt?
Es war zwar kalt, aber die unwahrscheinlich gute Atmosphäre hat alles wettgemacht, weil man sich unter Gleichgesinnten fühlte. Diese Nacht war genauso schön wie das Karajan-Konzert selbst. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Rentner, der auf einem Klappstuhl nächtigte und seine Brote aß. Besorgte Mütter brachten Tee zum Aufwärmen. Am Sonnabendvormittag kam dann auch Prof. Kurt Masur, bedankte sich für das Durchhaltevermögen und spendierte für alle einen Grog.«
aus: Eine Nacht, so schön wie Karajans Konzert. Von Hannelore Nedo. Leipziger Volkszeitung, 10. Februar 1984, S. 6,
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